Schaffhauser Mappe 1993

Im schönen Wangental

Fragte mich ein Fremder, welches das schönste Tal im Kanton Schaffhausen sei, so antwortete ich ohne Zögern: das Wangental. Der schmale Durchgang zwischen dem Rhein und dem Klettgau – als Wang oder Wange bezeichnen die Namenforscher ebene, von Bergen umschlossene Wiesenfelder – ist so reich an historischen Stätten, an botanischen, zoologischen und geologischen Merkwürdigkeiten wie keine andere Gegend unserer Heimat.
Mit allen Fasern ihres Herzens hing die Dichterin Ruth Blum an diesem Tal, dem sie im Kapitel «Zwischen den Wäldern» ihres Erstlingswerkes «Blauer Himmel, grüne Erde» ein literarisches Denkmal setzte. Als Romantikerin und Verehrerin Eichendorffs fühlte sie sich vom Mysterium der Grenze angezogen: «Gegen Osten stossen die beiden Wälder, die das Ried umfrieden, im spitzen Winkel zusammen. Dort fängt Deutschland an. In kleinen Schildhäuschen sitzen die Zöllner und bewachen die Grenze. Auch der Waldhügel südlich der Strasse ist schon badisch. Eine tiefe, wasserrauschende Schlucht schneidet ihn mitten entzwei. Ein uralter Pilgerweg führt dem Mühlenbach entlang und über die Anhöhe zum Rafzerfeld hinüber».
In einem unveröffentlichten Gedichtbändchen hat Ruth Blum ihr Lieblingstal besungen und in ihrer grenzüberschreitenden Fantasie mit geheimnisvollen Gestalten bevölkert. Dem Osterfinger Bad, dem Himmelreich, dem Rossbergerhof, der Radegg, dem Ernstelbach, dem Seedamm widmete sie ihre Verse. Von der Ruine Radegg sah sie hinab auf die Flucht der grauen Grenzsteine im Talgrund, die ihr zum Lebenssymbol wurden:

So wird ein grauer Stein, ein grüner Sparren
Begrenzter Menschheit klägliches Symbol
Dieweil glückselig über Kraut und Farren
Am freien Himmel segelt ein Pirol.

Ausblick von der Burgzinne der Ruine Radegg über das hintere Wangental
Ausblick von der Burgzinne der Ruine Radegg über das hintere Wangental

Die Besonderheiten

Nicht nur Poeten, auch strenge Wissenschafter haben dem Wangental ihr Interesse zugewendet. Die beiden botanisierenden Apotheker Johannes Schaleh (1796-1874) und August Gremli (1833 -1899) entdeckten die vielfältige Flora, die Rosen und die Orchideen. Dr.h.c. Georg Kummer (1885 -1954), der beste Kenner der Schaffhauser Pflanzenwelt, hat die Flora des Wangentals untersucht und auf ihre Besonderheiten aufmerksam gemacht.
Im Band der Schaffhauser Beiträge zur Vaterländischen Geschichte des Jahres 1938 berichtete der Historiker Karl Schib (1898-­1984) über die Ausgrabungen auf der Ruine Radegg und legte die spärlichen Erkenntnisse vor, die sich aufgrund von Archivforschungen über Auf- und Niedergang der Ritterburg gewinnen lassen. Auch die Römervilla auf der sonnigen Terrasse über dem Osterfinger Bad hat er erforscht, eine ergiebige Fundstätte mit nicht weniger als 287 Nummern im Museum zu Allerheiligen. Über das Bad selber mit seiner Quelle gibt es eine reichliche Literatur, namentlich aus der soliden Hand des Kunsthistorikers Reinhard Frauenfelder (1901-1983).

Aus der Talgeschichte

Ja, das Wangental hat seine Geschichte, eine Natur -und Kulturgeschichte. Sie beginnt in der Eiszeit, als Randen, Wannenberg, Rossberg und Nappberg noch eine zusammenhängende Kalkplatte bildeten. In der letzten Vergletscherungsperiode, der Würmeiszeit, endete der Rheingletscher beim heutigen Jestetten und erstreckte sich bis an den Fuss des Irchels. Ein tosender Schmelzwasserstrom sägte sich seinen Weg durch die Kalkriegel und ergoss sich in den Klettgau. Von den umliegenden Höhen herab stürzte das Schmelzwasser und grub die schluchtartigen Seitentäler aus. Was anderswo Tobel oder Krachen heisst, wird hier Graben genannt: der Ettengraben und Ernstelgraben auf der rechten, der Lochgraben und der Stutzmühlegraben auf der linken Talseite.
Bei Hochgewittern oder zur Schneeschmelze schossen gewaltige Wassermassen ins Wangental hinab und überschwemmten den Talgrund. Die Seitenbäche bildeten Geschiebekegel, die das Wasser anstauten. Ein besonders mächtiger Schuttfächer breitete sich als Wasserscheide beim Ausgang des Etten- oder Ättigrabens aus, wo heute die Zollgebäude an der Landesgrenze stehen. Nach Osten fliesst das Wasser gegen Jestetten in den Rhein, das vordere Wangental wird westwärts in die Wutach entwässert.
Das Wangental war Riedland. Hinter den Schwellen staute sich das Wasser an. Das topfebene, von einem schnurgeraden Abzugsgraben durchzogene Gelände auf Osterfinger Gemarkung nennt sich «lm See». Jenseits der Grenze liegt der «Wüste See», mit seinen Schilfbeständen, Rohrkolben, gelben Schwertlilien, schwänzelnden Kaulquappen und gelbgeflammten Molchen ein einzigartiges Moorreservat. Zwischen Altföhren und Plomberg dehnte sich einst weithin der Weisweiler See, der die Hochwasser des Wangentals aufnahm.
In jahrhundertlanger Arbeit wurde die versumpfte Schmelzwasserrinne des Wangentals urbarisiert. Der Landgraben ist kein natürlicher Bachlauf, sondern ein künstlicher Kanal, ausgehoben im Frondienst durch die Untertanen des Klosters Rheinau, zu dessen Grundherrschaft dieses Gebiet gehörte. Etwas besonderes sind die Wasserschutzbauten, der nahezu zwei Meter hohe Erddamm bei der Einmündung des Ernstelgrabens und der Stollen an der Wasserscheide beim Zoll, der das Hochwasser des Ättigrabens in den Wüsten See ableitete.

Überreste des alten Tunnels zwischen Ättigraben und Wüsten See
Überreste des alten Tunnels zwischen Ättigraben und Wüsten See
Der eingestürzte Rohrbogen des alten Tunnels
Der eingestürzte Rohrbogen des alten Tunnels

Schutz gegen Hochwasser

Wer hat dieses Werk geschaffen? Im Landesarchiv zu Karlsruhe aufbewahrte Dokumente vermögen die bisher ungeklärte Frage zu beantworten.
Am 31.0ktober 1552 fand in Griessen ein Gerichtstag statt. Den Klägern, Vertretern der Gemeinde Griessen und Geisslingen, standen die Weisweiler als Angeklagte gegenüber. Die Kläger brachten vor, dass das weite Sumpfgebiet des Weisweiler Sees seit Menschengedenken ohne Abfluss gewesen sei. Jetzt aber machen sich die Beklagten daran, einen Graben bis zum Schwarzbach bei Riedern am Sand auszuheben, wodurch für die Unterlieger die Gefahr von Überschwemmungen entsteht. Das Vorhaben ist ihnen zu verbieten.
Die Weisweiler schilderten ihre Nöte mit dem See. Mit wachsender Einwohnerzahl benötigen sie neues Ackerland und könnten es durch die Entwässerung des Sumpfes gewinnen. Der Urteilsspruch lautete, dass die Natur den Weisweiler See und die Sümpfe im Wangental geschaffen habe und dass an Gottes Willen nichts geändert werden dürfe.
Mit dem Entscheid konnten sich die Weisweiler nicht abfinden. Durch Verhandlungen mit den Schaffhauser Nachbargemeinden Wilchingen und Osterfingen kamen im Jahr 1590 ungenügende Verbauungen zustande, und es scheint, dass damals der Landgraben als Verbindung vom oberen See im hinteren Wangental bis zum Weisweiler See ausgehoben worden ist. Erst durch den Vertrag vom 9. März 1698 gestatteten die unterliegenden Gemeinden Griessen, Geisslingen und Oberlauchringen das Anlegen eines Kanals in den Schwarzbach, unter der Bedingung, dass Schleusen und Ausgleichsbecken eingebaut würden.
Nach wie vor standen die Wiesen und Äcker im Wangental, im Haassgländ und in Langenwandeln, nach schweren Regenfallen wochenlang unter Wasser. Die Gemeinden Wilchingen und Osterfingen reichten Hilfs­gesuche bei der Schaffhauser Obrigkeit ein, die ergebnislose Verhandlungen mit dem Kloster Rheinau und den Landgrafen im Klettgau führte. Den Durchbruch brachte die Konferenz vom 25. September 1792 im Osterfinger Bad, an der als Schaffhauser Abgeordneter auch der junge Ingenieur Johann Conrad Fischer, der Gründer der Stahlwerke im Mühlental, teilnahm.
Man kam überein, «das Übel an der Wurzel zu Packen», wie es im Protokoll heisst, und im Wangental einen Damm mit Schleuse als Auffangbecken zu errichten. Je ein Vertrauensmann aus Weisweil und Osterfingen erhält einen Schlüssel zum Aufziehen der Schleuse, um das Wasser «gemächlich» ablaufen zu lassen. Hinten im Wangental beim Ättigraben soll eine Tunnelröhre den Wasserstand zwischen dem oberen See und dem Wüsten See regulieren.
Dieser Planung liegen Ideen des genialen Erfinders und Metallurgen J. C. Fischer zugrunde. Sie wurden verwirklicht, doch bereiteten die Überschwemmungen im Wangental immer wieder Sorgen. Laut Verwaltungsbericht der Schaffhauser Regierung verlangte das Grossherzogtum Baden im Jahr 1855 das Einhalten des Vertrags von 1792 und die Erneuerung der Schutzanlagen. Zwar erhöhten Aufforstungen auf dem Südranden die Schwammwirkung der Wälder, aber noch in jüngster Zeit richteten die Seitenbäche des Wangentals, in Trockenzeiten blosse Rinnsale, bei Hochwasser schwere Schäden an.

Die Grundherrschaft des Klosters Rheinau

In den frühesten Urkunden erscheint das Wangental als Besitz des Klosters Rheinau das in offenen Teichen Karpfen für die Fastenzeit zog. Versumpfte Wiesen erhielten die Osterfinger Bauern zur Pacht. Das interessanteste Dokument ist der Vertrag vom Freitag vor St. Andrea 1544. Abt Bonaventura überlässt den Osterfingern «uff ir underthenigst pitten» 28 Jucharten und den See im Wangental als Erblehen. Sie wollen aus dem mit Gestrüpp überwachsenen Riedland Wiesen und Äcker machen und zahlen dafür jährlich den bescheidenen Grundzins von ein Mutt Kernen, ein Mutt Haber, ein Huhn und zehn Eier. Ausdrücklich wird festgehalten, dass das urbarisierte Land nur in langen Kriegsläufen aufgegeben werden darf. Tritt dieser Fall ein, haben die Osterfinger Wald wachsen zu lassen.
Im Frühjahr 1862 hob der Grosse Rat des Kantons Zürich das Kloster Rheinau auf. Der Grundbesitz fiel an den Staat oder kam auf öffentliche Versteigerung. Im Wangental gingen die Grundstücke in Privateigentum über. Am 18. Dezember 1862 beantragte der Osterfinger Gemeinderat den Stimmberechtigten die Erwerbung der Abtshalde, deren Name heute noch an den Klosterbesitz erinnert. Er erhielt Vollmacht zum Höchstangebot an der Gant und nahm beim Staat eine Anleihe von 20’000 Franken auf. Ein Stimmbürger wollte sogar noch den Wüsten See kaufen und durch Drainagen in den Schönen See verwandeln, aber das war den Osteringern denn doch ein zu riskantes Abenteuer.

Talheuet

Sie haben das Wangental schrittweise erschlossen und das Riedland in Wiesen und Äcker verwandelt, eine im Kanton Schaffhausen seltene Pionierleistung. Meine Grossmutter erzählte vom Talheuet und vom Männerstolz, als tüchtige Mähder zu gelten. Des Morgens um 2 Uhr war Tagwache. Zuerst genehmigten die Kraftgestalten im Bauernhaus einen Brenz, hernach zogen sie in der Dämmerung hinaus an den Seedamm. Bei Sonnenaufgang sollte bereits eine Reihe von Mahden am Boden liegen. Jauchzer ertönten, wenn das Gestirn über den walddunklen Höhen aufstieg. Freudiger noch als die Sonne wurde die Hausfrau begrüsst, wenn sie im linnenbedeckten Korb den Morgentrank brachte.
Beinahe wäre die stille Abgelegenheit des Wangentals durch die Eisenbahn gestört worden. Die badische Regierung in Karlsruhe plante die Linie von Basel nach Konstanz über Jestetten. In der Gemeindeversammlung vom l0. November 1845 musste Osterfingens Gemeindepräsident seine Mitbürger vor Sabotage und dem Ausreissen der Markierungen im Wangental warnen, die von den badischen Geometern angebracht worden waren. Wie überall hatten die Bauern Angst vor dem luftverpestenden Dampfross und vor dem Zerschneiden der Felder. Mit Erfolg setzte sich die Schaffhauser Regierung für die Linienführung durch den volksreichen oberen Klettgau ein, zur grossen Enttäuschung für die Leute des Jestetter Zipfels, die immer wieder den Bahnanschluss forderten.

Vom Ölbach zur Stutzmühle

Von der Landstrasse und vom Auto aus lassen sich die Reize des Wangentals nicht erfassen. Wer seine Schönheiten erleben will, muss auf Seitenpfaden wandern.
Unweit des Zolls zweigt ein weicher Waldweg beim Geschiebesammler des Ättigrabens nach links ab. Im Gestrüpp sehen wir Überreste des eingestürzten Tunnels, der das Hochwasser in den Wüsten See lenkte. Dem Hang entlang gelangen wir auf deutschem Boden zum Naturschutzgebiet und zum weit herum grössten Standort des Märzenglöckleins. In den ersten Märztagen, wenn Frühlingswinde leise durch das Wangental ziehen, bietet hier das Fluten, Neigen und Wogen von Tausenden der zarten Frühlingsboten einen zauberhaften Anblick. Ringsum leuchtet im Wald der schneeweisse Teppich.
Hinter dem Blumenwunder erwartet uns eine weitere Sehenswürdigkeit. In einem halbkreisförmigen Couloir stürzt der Ölbach über die unterhöhlten Felsen herab, zuerst als leichter Schleier, hernach silbrig und märchenhaft zwischen den Kalkriffen weiterrinnend. Der deutsche Naturschutz hat diese Wasser- und Felspartie mit Ruhebänken und Feuerstellen zum idyllischen Rastplatz gemacht.
Beim Weiterwandern dem Waldrand entlang kommen wir bald zur Stelle, wo der Lochgraben aus einer dämmerigen Waldschlucht hervortritt. Die alte Mühle oben im Tobel mutet wie ein Bild von Carl Spitzweg an. Für die Talbauern war der Lochgraben ein Sorgenbach, der die Strasse nach Rafz und die Felder immer wieder mit Steinen und Geröll verschüttete. Es hiess, dass die Baltersweiler den Abraum ihres Steinbruchs ins Bachbett warfen und den Ablauf verstopften. Nach gehässigen Konflikten mussten sie Steinschwellen und Faschinen einbauen. Der heutige Bachlauf ist durch die Korrektur 1905/06 zurechtgebogen, so dass sich der Lochgraben heute zumeist gesittet benimmt.

Am Heidenbrünnili

Beim Heidenbrünnili am Waldsaum unter der Abtshalde wollen wir ein wenig verweilen und lauschen, was uns der glucksende Wasserstrahl zu erzählen weiss. Es sind traurige Geschichten. Im Sprachgebrauch unserer Vorfahren waren die Heiden ungetaufte Zigeuner, die im Grenzwinkel des Wangentals Zuflucht suchten und hier ihre Zelte aufschlugen. Das braunhäutige Nomadenvolk war verfemt und flüchtete bei den häufigen Verfolgungen auf auswärtiges Territorium. In den Osterfinger Akten finden sich fast jährliche Aufgebote zu Zigeunerjagden, wobei die Gefangenen ausgepeitscht und gebrandmarkt wurden, ein düsteres Kapitel der Schaffhauser Sozialgeschichte.
Auf Wilchinger Gemarkung übertretend, erblicken wir vor uns den Waldwinkel zwischen den Steilhängen der Abtshalde und Altföhren, wo einst die Räder der Stutzmühle klapperten. Stutz oder Stotz heisst ein jäh abfallender Berghang. Es rauscht hier ein das ganze Jahr Wasser führende Waldbach mit starkem Gefälle das Tobel herab, in alten Urkunden Arzenbach genannt. Wo er den Forst verlässt, bauten die Wilchinger im Jahr 1598 eine Mühle, deren wirtschaftliche Bedeutung nicht gering war, denn der kornreiche Klettgau gehört zu den trockensten Gebieten der Schweiz und sein Hauptgewässer ist der Seltenbach, der selten Wasser führt. Im Stutz lief das Wasser mit anhaltender Leistung vom Mühleweiher durch einen Kanal auf zwei oberschlächtige Schaufelräder, das eine zum Mahlen des Getreides, das andere für die Rendel zum Entpelzen des Korns. Ihr Rad lief mit so grossem Eifer und Geräusch, dass jetzt noch ein gut geöltes Frauenmundwerk Rendle genannt wird.
Das Rad der Zeit ging schneller als das Mühlenrad. Mit dem Aufkommen der mechanisierten Grossmühlen verstummten die Mühlräder am rauschenden Bach. Die Stutzmühle stand leer und wurde von den Wilchingern als Forsthaus und Holzmagazin benützt. Nach einem Brand wurde sie im Jahr 1971 dem Erdboden gleichgemacht.
Auf dem Rastplatz für müde Wanderer sind nur noch einige Mühlsteine Zeugen der Vergangenheit.

Hier am Stutz stand einst die Stutzmühle
Hier am Stutz stand einst die Stutzmühle

Verklungen sind auch die frommen Gesänge der Pilger, die vom Schwarzwald her auf dem St. Pauliweg an der Stutzmühle vorbei zur Eglisauer Rheinbrücke und nach dem Wallfahrtsort Einsiedeln zogen. Auf dem Sattel der Altföhren steht die Kapelle, das Chäppili, wo sie ihre Gebete verrichteten. Über der Tür ist ein Schild mit drei Totenköpfen angebracht und unter dem Schädel der Spruch: «Ihr Vorbeigeher und Schauer, sagt mir, wer ist Fürst, Bettelmann oder Bauer». Das Bildhaus ist der heiligen Apollonia geweiht, der Zahnwehheilerin. Für die Schaffhauser Geistlichkeit war es ein Ärgernis, dass Zahnwehgeplagte aus dem Klettgau auch nach der Glaubenserneuerung Bittgänge auf katholischen Boden machten, nach dem bauernschlauen Grundsatz: «Nützt’s nüüt so schadt’s nüüt».

Vom Ättigraben zum Osterfinger Bad

Abwechslungsreich ist auch die Wanderung auf der rechten Seite des Wangentals. An den Halden des Trisbergs und der Radegg wuchsen einst Reben, erstmals bezeugt durch den Randenburger Einnahmerodel um 1350. Um 1680 reichte die Gemeinde Osterfingen dem Kleinen Rat das Gesuch ein, am heissen Hang unter der Radegg Reben pflanzen zu dürfen. Sie erhielt die Bewilligung, und noch zu Beginn dieses Jahrhunderts konnten dort verwilderte Nachkömmlinge gefunden werden.
Beim Seedamm, an dessen buschumsäumter Ostflanke der gezähmte Ernstelbach fliesst, zweigt der Weg ab zur Quelle hinauf. Sie ist kein munter sprudelnder Ursprung. Aus einer Felsspalte quillt lautlos das kristallklare Wasser. Leider ist heute der Quelltopf durch Drahtzäune und Betonschalen verunstaltet. Wo blieb hier der Naturschutz?

Die Quelle des Ernstelbachs quillt aus den Felsspalten
Die Quelle des Ernstelbachs quillt aus den Felsspalten

Bald nach seiner Geburt beginnt das Waldkind zu hüpfen, springt von Stufe zu Stufe, von Bassin zu Bassin talwärts, der schönste Waldbach im Kanton Schaffhausen. In unserer Jugendzeit standen in den kühlen Becken Forellen, schauten uns mit ihren traurigen Augen an und wollten unbedingt gefangen und gebraten sein. Die Frevel der Jugend sind verjährt!

Der Ernstelbach hüpft über seine Kalkstufen
Der Ernstelbach hüpft über seine Kalkstufen

Dem Hang entlang steigt der Weg zur Ruine Radegg empor, an der Tüüfelschuchi vorbei, felsiger Schauplatz des Kriminalromans «Das blaue Licht» von Verhörrichter Heinrich Huber. Von der Burgzinne geht der Blick in die grüne Tiefe des Wangentals, über die dunklen Höhenzüge des Mittellands bis zu den schemenhaften Silhouetten der Alpen am fernen Horizont, denen klare Herbst- und Föhntage scharfe Konturen geben. Die Sage lässt das Kätterli im verschütteten Burgkeller noch immer auf ihren Erlöser warten.

Die Burg Radegg hoch über dem Wangental
Die Burg Radegg hoch über dem Wangental
Der Burggraben
Der Burggraben

Vom Rossberg läuft der Wanderweg «Chum und lueg» oberhalb des Rutschgebiets der Steimüri ins Tal hinab. Der humusarme Südhang, in den Rechnungen des Forstmannes ein Defizit, ist für den Botaniker ein Eldorado. Weil es sich nicht lohnt, die kümmerlichen Flaumeichen, krummwüchsigen Ahorne und wertlosen Mehl- und Vogelbeerbüsche zu bewirtschaften, blieb sich dieses Trockengebiet selber überlassen, so dass hier Pflanzen wachsen, die andernorts längst ausgerottet und verschwunden sind. So hat die Flora des Wangentals ihr Gepräge durch früh eingewanderte Blumen östlicher und südlicher Herkunft, vom Schwarzen Meer und Mittelmeer, erhalten.

Diptam und Sikahirsch

Mit anderen Weggenossen hat der Diptam die botanische «Völkerwanderung» überstanden. Er soll von der Insel Kreta stammen und war der Liebesgöttin Aphrodite geweiht. An heissen Junitagen zieht sein süsslich-betäubender Duft die Radegghalde entlang, und der Wanderer entdeckt die rötlichblühenden, durch den Steilabsturz geschützten Sträucher am Wegrand. Die Blüten enthalten so viel ätherisches Öl, dass sie wie knisterndes Feuerwerk brennen, hält man ein Streichholz daran. War der Diptam oder Gottesstrauch der heilige Busch, von dem es im zweiten Buch Moses heisst: «Und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Busch»?
Bildet der Diptam die botanische Seltenheit des Wangentals, so gibt es hier auch eine zoologische Attraktion. Am 31.Dezember 1945 erlegte der Osterfinger Jagdaufseher Jakob Stoll an der Radegghalde seinen ersten Sikahirsch. Dieses aus Ostasien stammende Wildtier wurde in einem Gehege bei der Küssaburg gehalten. Vor dem Einmarsch der Franzosen im Frühjahr 1945 öffnete man das Gatter, so dass die Hirsche ins Freie gelangen konnten. Sie fanden in den Bohnerzgruben und Wassertümpeln des Südrandens günstige Lebensbedingungen und wurden zum Standwild.

Ein Waldreservat

An den steilen Sonnenhängen des Wangentals wächst auf den flachgründigen Böden eine extreme Waldgesellschaft anspruchsloser Hungerkünstler wie die Flaumeiche, die Traubeneiche, Ginsteg Liguster, Wacholder, Mehl-, Vogel- und Elsbeere. Solche Wälder sind in Mitteleuropa selten geworden und kommen in der Schweiz nur noch an wenigen Orten des Tessins, des Unterwallis und am Jurasüdfuss oberhalb des Bielersees vor. Durch Vertrag mit der Gemeinde Osterfingen hat die Eidgenössische Technische Hochschule das über fünf Hektaren umfassende Flaumeichenreservat «Staabruchhau» geschaffen, so dass die natürliche Entwicklung eines nahezu unberührten Urwalds beobachtet werden kann. Es wundert uns denn auch nicht, dass das Wangental ins Bundesinventar der schützenswerten Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung aufgenommen worden ist.

Vom Waldrand des Himmelriichs steigen wir durch den Rebberg zum Osterfinger Bad hinab, wo hinter einem kleinen Park mächtiger Kastanienbäume die Grundmauern des römischen Gutshofs aus dem Ackerland ragen. Weil es ja nur eine Querrinne ist, endet das Wangental früh, aber mit einem kulinarischen Höhepunkt. Chemische Analysen haben den Glauben an die Heilkraft des Quellwassers zerstört, aber die Freude am Wein bleibt unvergänglich. Auf mancher Wanderung ist der Weg besser als die Wirtschaft, und oft ist es umgekehrt. Hier sind sich beide ebenbürtig.

Bad Osterfingen, die alte Römerquelle am Eingang zum Wangental
Bad Osterfingen, die alte Römerquelle am Eingang zum Wangental